Von Kaumberg nach Rohr im Gebirge – Etappe 2

Araburg

Meine Heldinnen-Reise nach Mariazell (Teil 3/7)

Meine Heldinnen-Reise nach Mariazell bekommt heute eine neue Dimension. Mit der relativ kurzen gestrigen Route wärmten wir uns quasi auf. Heute schauen wir uns an, was tatsächlich in uns steckt.

Sind wir Heldinnen oder Looser, die bereits am 2. Tag aufgeben? Es ist für mich spannend, da ich auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen kann. Beatrix ist wandertechnisch die Versiertere von uns beiden. komoot verrät uns, dass es sich um eine schwere Tour handelt, die sehr gute Kondition und Trittsicherheit erfordert. Also doch gut, die Wahl der Schuhe!

Dankenswerter Weise bringt uns Frau Stangl, die kooperative Zimmerwirtin, nach einem hervorragenden Frühstück um 7.30 h zum Parkplatz der Araburg. Hier starten wir unsere persönliche Challenge, vor der wir zugegebenermaßen etwas Bammel haben. Beide. Doch wenn du mal soweit bist, dann bleibt dir ohnehin nur mehr das Tun: einen Schritt vor den anderen setzen und ganz fest an dich selbst glauben!

Tagesziel

von Kaumberg nach Rohr im Gebirge (Hotel Kaiser Franz Josef)

  • Wegstrecke 23 km
  • höchster Punkt 1.170 m
  • niedrigster Punkt 660 m
  • Dauer 7:23 Stunden
  • ∅ Geschwindigkeit 3,1 km/h
  • ↖︎ 940 m
  • ↘︎ 920 m
Karte der Tagestour

Tourenprofil

Tourenprofil
erstellt von ©komoot

1. Tagesziel – Enzianhütte

Frohen Mutes schreiten wir los und beginnen unsere Etappe im kühlen Wald. Von kühl ist jedoch nicht lange die Rede, denn schon bald beginnt die Steigung und die Anstrengung heizt uns ordentlich ein.

Gott Lob haben wir die Trekkingstöcke! Sie sind echt ein Segen, sowohl beim Bergauf – als auch beim Bergabsteigen. Obwohl sich meine Zehen am rechten Fuß mittlerweile unangenehm bemerkbar machen, bin ich heilfroh über meine Schuhwahl. Vielleicht war der Tipp zwei Paar Socken anzuziehen, doch nicht so gut?

Steiler Waldweg auf dem eine Frau bergauf geht.

Am Berg gehe meist ich voran. Immer wieder nütze ich die Zeit, in der ich auf das Aufschließen von Beatrix warte, zum Fotografieren und Verschnaufen. Dieser Abschnitt hat es wirklich in sich, noch schlimmer als befürchtet!

Stellenweise bewältigen wir bis zu 35 % (!) Steigung und sind mehr als gefordert. Im Geiste scanne ich immer wieder die Packliste sowie den Inhalt meines Rucksacks. Was könnte ich beim nächsten mal bloß daheim lassen, damit dieser Rucksack leichter wird? Sollte ich das je nochmals machen, dann mit einem kleineren Modell, da geht einfach nicht soviel hinein.

Wanderchoreo

Mittlerweile haben wir einen nahezu choreographischen Ablauf entwickelt, uns gegenseitig unsere Trinkbottles zu reichen, um nicht den Rucksack ablegen zu müssen. Jeder Schluck RINGANA boost ist kostbares Lebenselixier für meine Muskeln und unterstützt mich dabei durchzuhalten. Wie machen das Leute, die alleine unterwegs sind? Haben alle so eine Trinkblase?

Waldweg am Berg. Die Sonne scheint durch die Blätter.

Immer wieder fragen wir Miss komoot, unsere „Wäg-Tussi“, nach dem Stand der Dinge. Kaum verschnaufen wir etwas länger, meint sie „Folgen Sie dem Wäg!“ und meine iWatch fragt provokant: „Training beendet?“

Bläde Funzn 🤬! Merkst du nicht an meinem Puls, dass ich mich – langsam aber doch – fortbewege? Ich meine 35 % 🥵! Dennoch sind wir unserer Technik sehr dankbar für jedwede Unterstützung.

Im Laufe der Strecke taucht auch der junge Mann von Etappe 1 wieder auf. Auch er wird in Rohr übernachten, möglicherweise sieht man einander dort wieder. Lange haben wir nicht Zeit zum Plaudern, wir brauchen unsere Luft zum Schnaufen.

Gottlob, nach 5 Stunden Bergwertung wird es am Horizont heller und ich sehe durch die Blätter ein Dach und Sonnenschirme. Yippie, wir haben unser erstes Etappenziel erreicht! Wir wanken die Treppe hinauf und finden erschöpft ein Plätzchen auf der Terrasse.

zwei erschöpfte Frauen auf der Hütte

Ich hüte mich davor, die Schuhe für eine Weile auszuziehen, denn wenn meine Füße anschwellen, komme ich nie wieder in die Böcke hinein. Allerdings entledige ich mich meines zweiten Sockenpaares. Für diese Tragevariante müssten die Schuhe eindeutig eine Nummer größer oder zumindest breiter sein!

Der Gedanke dahinter: trägst du zwei paar Socken übereinander, dann reibt Socke an Socke, jedoch nicht an der Haut. Du solltest in diesem Fall ganz dünne Söckchen für darunter nehmen… und der Schuh muss breit genug sein!

Ein köstliches Frittatten-Süppchen und hausgemachte Topfenknödel mit Zwetschkenröster heben die Stimmung wieder. Wir hatten im Vorfeld auch auf der Enzianhütte um Quartier angefragt, doch leider: ausgebucht! Rasch trinke ich noch ein protein und shake mir ein zweites RINGANA boost für den nächsten Abschnitt, dann geht es weiter zum berüchtigten Unterberg.

Enzianhütte mit prachtvollen Petunien am Fenster

2. Tagesziel – Unterberg-Schutzhaus

Frisch gestärkt machen wir uns in der Mittagshitze auf den Weg. Immerhin haben wir noch ein weites Stück vor uns bis zum Unterberg-Schutzhaus, wo wir nochmals eine kurze Trinkpause einlegen wollen.

Plötzlich merke ich, dass mein rechter Oberschenkel zu Krampfen beginnt. Nein bitte, nicht das auch noch! Rucksack runter und das Magnesium suchen. Täglich versuche ich beim Einräumen zu optimieren. Learning dieses Tages: alle NEM kommen morgen ganz nach oben!

Ich werde endlich fündig und entdecke bei der Gelegenheit einen weiteren Reißverschluss am Boden des Rucksacks. Man muss doch nicht immer alles ausräumen, wenn man von ganz unten was braucht! Ich bin heilfroh, dass ich Mama ein paar ihrer Magnesiumstangen klaute. Es hilft rasch und wir gehen weiter bergab, sehr zum Leidwesen meiner Zehen!

Mindfuck

Mittlerweile komme ich an meine Grenzen. Ich bin nur mehr damit beschäftigt, mich von meinen Schmerzen abzulenken, zu versuchen nicht an die Füße zu denken. Mitunter bin ich froh, wenn es steil über Wurzeln und Steine durch den Wald bergab geht, da ich mich dann voll und ganz auf den Weg konzentrieren muss. Klingt vielleicht blöd, lenkt den Fokus vom Pochen jedoch auf etwas anderes.

Um die Sache zu relativieren, denke ich daran, welche Strapazen Menschen im Krieg auf sich nehmen mussten oder es auch heute noch tun. Oder an Menschen, die auf Expedition in die Arktis gehen und dort ihre Zehen durch Erfrierungen verlieren. Was sind denn da schon ein paar Blasen und Druckstellen auf den verweichlichten Großstadtzecherln?

Skurriler Baumstamm im Wald

Ich hab streckenweise keine Worte mehr und trotte schweigend vor mich hin, konzentriere mich nur mehr auf den vor mir liegenden Weg. Gelegentlich zwinge ich mich aufzublicken, um die traumhafte Landschaft rundherum wahrzunehmen. Doch auch Beatrix ist mittlerweile verstummt, ihre Schmerzregion liegt in der Schulterpartie. Mittlerweile ist mein Scout meist vor mir und meine Motivation weiter zu trotten.

Mein innerer Schweinehund flüstert mir zu, dass Helmut meinte, er könne uns von überall innerhalb von 1 1/2 Stunden abholen… Das klingt doch verheißungsvoll! Dennoch, wir müssen auf jeden Fall vom Berg runter. Evelyne, reiß dich zusammen! So denken Looser, keine Heldinnen!

Pause!

Mittlerweile hab ich sämtliche Trinkvorräte geleert und brauche dringend Nachschub. Ich stelle fest, dass eine Flasche für mich zu wenig ist. Ich bekomme Kopfschmerzen wenn ich zu wenig Flüssigkeit zu führe. Morgen werde ich mir eine zweite Trinkflasche besorgen. Immerhin – ich denke wieder an die morgige Etappe!

Endlich sehen wir eine Häusergruppe – die Hütte und die Infrastruktur vom Schilift am Unterberg. Doch oje – die Hütte hat heute und morgen geschlossen! Wir suchen uns ein schattiges Plätzchen und teilen schwesterlich meinen Frühstücksapfel. Wie köstlich so ein Apfel doch sein kann!

Zwei Frauen machen Pause und essen einen Apfel

Das Telefon meldet sich und Beatrix telefoniert mit dem „Backoffice“. Helmut hat gemerkt, dass wir Pause machen und klärt uns auf, dass wir bei der falschen Hütte sind. In ca. 300 m kommt erst das Unterbergschutzhaus und das hat selbstverständlich offen. Das alles wurde vor Reiseantritt überprüft.

Wir brechen wieder auf und wandern zum Schutzhaus weiter. Mittlerweile ist jeder Schritt eine Qual. Nach einer kurzen Rast haben wir die Gewissheit, jetzt geht es nur mehr bergab, doch gerade das Bergabgehen erfordert vollste Konzentration meinerseits.

Maria Einsiedel-Kirche nahe dem Unterberg-Schutzhaus

Verbundenheit

Ich verdränge die Gedanken ans Aufgeben und hole mir die Willensstärke meines Sohnes her. Er war ein unglaublicher Kopfmensch, das bewunderte ich immer an ihm. Seine gesamte Krankheit hindurch, hielt ihn sein eisernere Wille aufrecht. Habe ich diese Fähigkeit auch?

In all diesen Tagen ist Alex ganz nahe bei mir. Er gibt mir Kraft und lehrt mich Verbundenheit. Ich trage seine Wanderhosen und seine iWatch. Sein Leatherman, sein Taschenmesser und seine Stirnlampe sind mit im Gepäck. Ich fühle mich beschützt und gestärkt. In der Natur spüre ich ihn am meisten.

Annehmen was ist

Immer wieder fallen mir Szenen der letzten Wochen ein, als Alex noch lebte. Für mich ist diese Wanderung ein weiterer Schritt der Aufarbeitung. Die Tatsache, dass wir uns zur Vermietung der Wohnung entschlossen, stürzte mich in den letzten Tagen in tiefe Traurigkeit. Nicht die Tatsache der Vermietung selbst, sondern die vielen Erinnerungen, die beim Betreten der Wohnung auf mich einstürmten. Es zeigte mir, dass es an der Zeit ist, auch hier loszulassen.

Auf dem Weg nach Mariazell mache ich meinen Frieden mit mir selbst. Ich darf auch als Mutter Wege der Abgrenzung finden, um mein Leben weiterführen zu können. Immer wieder sage ich mir vor: nimm an, was ist. Du kannst es nicht ändern. Denk an dein Motto: Vertraue dem Leben, finde das Geschenk.

Gepflegter Oldtimer

Gleichzeitig lerne ich meinen Körper in ganz neuen Dimensionen kennen. Staune wozu er fähig ist und wie er sich von der massiven Anstrengung nächtens doch wieder erholt. Mein Luxusschlitten ist zwar bereits in die Jahre gekommen – ein gepflegter Oldtimer halt, doch er bekommt allemal noch ein Pickerl! Vielleicht mit ein paar leichten Mängeln, doch damit kann ich gut leben!

Jeder Schritt ist eine Überwindung, jede Pause allerdings auch eine Qual – beim Weitergehen nämlich. Wir sind innerhalb kürzester Zeit so steif, dass wir uns nur mit Mühe weiterbewegen können. Soll ich mir zur Ablenkung einen Podcast einlegen? Doch ich will mich nicht zudröhnen, um vor meinen Gedanken zu fliehen, nicht auf dieser Pilgerreise.

Schließlich – ich kann es kaum fassen – sind wir im Tal angelangt und sehen bereits das Ortsschild von Rohr im Gebirge. Dennoch sagt uns unsere Wäg-Tussi, dass es noch eine 3/4 Stunde (!) zu marschieren ist. OMG nein – ich kann einfach nicht mehr!

A bissl was geht immer noch

Doch es nützt nichts, a bissl was geht immer noch. Muss gehen. Ein Schritt nach dem anderen, auch wenn wir immer langsamer werden. Eigentlich sollten wir jetzt links hinauf auf einen Waldweg, doch der ist gesperrt. So müssen wir auf der Straße weiter stapfen, die kaum befahren ist.

Kleine Wunder

Wie schön wäre es, wenn jetzt ein Auto in unsere Richtung fahren und stehen bleiben würde! Nur dieses Stück bis zum Hotel, bitte Alex, mach was!

Und manchmal geschehen kleine Wunder! Kaum habe ich den Gedanken fertig gedacht, bleibt tatsächlich ein paar Meter vor uns ein Auto stehen und eine Frau steigt aus. „Soll ich euch mitnehmen? Ihr schaut’s schon so müde aus!“

„Ja, OMG, ja bitte unbedingt! Das gibt tonnenweise Karmapunkte aufs Konto!“ Mein Herz jubelt, meine Zehen noch mehr. Die nette Dame räumt die Sitzbank frei und lässt uns einsteigen. Die Strecke hätte sich noch ganz schön gezogen, in diesem körperlichen Zustand bekommt jeder gefahrene Kilometer eine völlig andere Dimension.

Beatrix und ich sind unsagbar froh, dass uns der Himmel diese Frau schickte. Sie führt uns bis direkt vors Hotel Kaiser Franz Josef und lehnt eine Einladung auf ein Getränk dankend ab.

Wir steigen aus und werden von dem jungen Mann, der uns überholte, willkommen geheißen, der im Gasthof vom Hotel bei einem Bier sitzt. „Ja wo bleibt’s denn? I woat scho die ganze Zeit auf eich!“

Könnt’s glei vis a vis beichten gehen…

Ein anderer Mann meint lachend: „Jo wos seid’s denn ihr für Wallfoarer? Mit dem Auto fiarn lossn – kännt’s glei vis a vis beichtn gehn!“ Ich weiß nicht, was er hat – es heißt doch WallFAHRER? Uns ist das alles schnurz und wir checken ermattet im neu renovierten Hotel ein. Ein wunderschönes Zimmer mit einem phantastischen Bad erwartet uns, allerdings müssen wir zuvor den 2. Stock erklimmen.

Nach einer ausgiebigen Dusche und Salbung der schmerzenden Glieder stakse ich nach unten in den Gasthof. Wir setzen uns – sehr vorsichtig – zu unserem Wanderkollegen (der übrigens Othmar heißt und in der Gegend von Melk beheimatet ist) und verbringen einen ausgesprochen netten gemeinsamen Abend. Angeregt unterhalten wir uns über Wanderwege, u.a. den berühmten Jakobsweg in Spanien. Othmar hat ihn bereits gemacht – 800 km in 5 Wochen. Schluck.

Und morgen?

So und jetzt? Wie geht’s weiter? Aufgeben und Helmut anrufen? Weitermachen?

Beatrix und ich reden morgen beim Frühstück weiter. Nie in der Emotion eine Entscheidung treffen. Oder im körperlichen Desaster. Erst mal schlafen und dem Körper die Möglichkeit zur Erholung bieten. Aber toll wäre es schon… Aus jetzt.

Facts & Figures

Nachdem meine iWatch wieder geladen ist, kommen die Erfolgsmeldungen im Sekundentakt. Jetzt bin ich doch ein bissl stolz auf mich und fühle mich ein klein wenig wie eine Heldin. Wie eine sehr müde Heldin…

Teil 4/7: von Rohr im Gebirge nach St. Aegyd – Etappe 3

Teil 2/7: von Maria Reisenmarkt nach Kaumberg – Etappe 1

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