IRGENDWAS, das bleibt…

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Ich sitze mitten im Baustellenchaos und lasse diesen Satz zum wiederholten Mal in mir nachklingen. „IRGENDWAS, das bleibt…“ Am letzten virtuellen Lagerfeuer der Schreibfreundinnen einigten wir uns auf dieses Thema für unseren nächsten Blog. In meinem Kopf tönt leise das Lied von Silbermond und Fetzen des Songtextes schweben vorbei. Immer und immer wieder.

Ich bin diesmal die Letzte in der Runde, die den Veröffentlichen-Button klickt, denn ich finde mich seit mehreren Wochen in einer massiven Phase des Räumens und Loslassens, physisch und psychisch, äußerlich und innerlich. Ich suche gedankenschwer nach IRGENDWAS, das bleibt

IRGENDWAS, das bleibt…

Selten bringt es ein Lied so auf den Punkt, wie der Song von Silbermond, einer Band, die ich im übrigen sehr schätze.

Gib mir ’n kleines bisschen Sicherheit
In einer Welt, in der nichts sicher scheint
Gib mir in dieser schnellen Zeit, irgendwas das bleibt
Gib mir einfach nur ’n bisschen Halt
Und wieg mich einfach nur in Sicherheit
Hol mich aus dieser schnellen Zeit
Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit
Gib mir was, irgendwas, das bleibt

Quelle: Musixmatch

Über meinem Kopf (ich sitze an meinem Schreibtisch im Dachgeschoss während ich diese Gedanken in meine Tastatur fließen lasse), wird gehämmert und gebohrt. Wir bekommen gerade eine Photovoltaikanlage, sowohl am Dach als auch im Keller wird massiv gearbeitet. Unser über 100 Jahre altes Haus wird in Zukunft mit modernem, nachhaltigem Öko-Strom versorgt. Alex hätte bestimmt oft vorbei geschaut, um sich vom Verlauf der Geschehnisse zu überzeugen.

Alex und der Strom

Ich müsste jetzt eigentlich die Strommännchen-Geschichte ein bissl verändern, die wir unserem Sohn immer vor dem Einschlafen erzählten (gefühlt wirklich über Jahre, allabendlich): „Die Strommännchen kommen über das dicke schwarze Kabel in den Zählerkasten ins Haus…“ Tja, bald kommen sie vom Dach und rutschen fast wie Santa Claus durch den Kamin…

Alex und der Strom – der hatte von Beginn an eine für Außenstehende oft nicht nachvollziehbare Anziehungskraft. Von kleinsten Kindesbeinen an wurde jegliches Spielzeug an ein imaginäres Stromnetz angeschlossen (dass er nicht an die echten Steckdosen ran durfte, wusste er ganz genau).

Statt mit Bilderbüchern konnte er sich stundenlang mit ZGONC-Katalogen die Zeit vertreiben und das schönste Geschenk, das ihm sein Opa jemals machen konnte, war das Schalter-Stecker-Brett. Ein Holzbrett, in das ein paar Steckdosen und Schalter eingebaut waren und das Alex überall hin mitnehmen konnte. „Ang’steckt is!“ hörte ich mehrmals täglich.

Werkzeugsammlung vom Feinsten

Auch als Erwachsener behielt er seinen ausgeprägten Faible für exzellentes Werkzeug. Immer wieder half er voll Leidenschaft Freunden unentgeltlich bei Umbauarbeiten aus. Oftmals wurde er dann mit Werkzeug „entlohnt“, das er sich selbst (er war immer schon ein Sparefroh) nicht gegönnt hätte. Die geerbte Werkzeugsammlung ist vom Feinsten. Oftmals mußte ich mich im Fachhandel oder bei Google erst schlau machen, wofür man das eine oder andere Ding überhaupt benötigt. Vieles werden wir wohl nie mehr in diesem Leben verwenden, doch noch hüte ich den Großteil dieser Verlassenschaft wie meinen Augapfel…

Gerade in den letzten Wochen tauchte ich somit in vergangene Zeiten ein, zwangsläufig, immer und immer wieder. Wiederholt nehme ich mir fest vor, nicht ständig den Tod meines Sohnes vor Augen zu haben, den Emotionen, die bei mir hochkommen, die Wehmut, die mich überkommt. Doch derzeit ist es ein unglaublich präsentes Thema, um das ich nicht herum komme. In drei Tagen wäre er 35 Jahre alt geworden. Ein Schmerz, der bleibt.

Pilgerreise

In den letzten Wochen musste ich mich zwangsläufig extrem oft mit dem Loslassen beschäftigen. Ich war fünf Tage auf Pilgerreise von Wien nach Mariazell, u.a. um damit besser klar zu kommen. Die Räumung von Alex Wohnung zwecks Vermietung zwang mich dazu, jedes Teil nochmals in die Hand zu nehmen, sozusagen das Messer nochmals in die Wunde zu legen und fest umzudrehen. Aufs Neue die Entscheidung zu treffen: Loslassen? Oder einen Platz bewahren? Bis ich in meinem Verarbeitungsprozess wieder ein Stück weiter gekommen bin.

Auch wenn die Welt den Verstand verliert
Das hier bleibt unberührt
Nichts passiert

erster Blick vom Sebastianiweg auf die Basilika Mariazell

Frühzeitig abberufen

Sehr schwer fiel es mir beispielsweise, die Haken an der noch nicht fertiggestellten Garderobe zu montieren. Von Alex liebevoll geplant, raffiniert und perfekt umgesetzt – die Wohnung war sein ganzer Stolz. Doch dann, mitten in den ersten Umbauarbeiten, wurde er frühzeitig abberufen. Körperlich nicht mehr imstande dieses Möbelstück in den letzten Monaten fertig zu bauen. Alle Teile sind vorhanden, doch für uns ist es nicht nachvollziehbar, technisch und handwerklich. Aus. Vorbei.

Plötzlich stürmen weitere Erinnerungen auf mich ein:

Szenen, wie er mit Windelpopo, blauem Schnuller und blauen Gummistiefeln dem MannMitHut die Hacke in die Hand drückte, weil es ihn so beeindruckte, wie der Papa den alten Rosenstöcken vom Uropa zu Leibe rückte (an eben diesem Morgen konnte der MannMitHut – seines Zeichens Softwaretechniker – die Hacke kaum mehr halten, doch das ließ seinen Sohn völlig kalt). Unbeeindruckt rotierte der Schnuller wie ein Propeller im kindlichen Mund, das untrügliche Zeichen vollster Konzentration vor spannenden Ereignissen…

Oder als der MannMitHut aus Restbeständen ein Regal im Keller montierte, das nicht ganz genau zugeschnitten war. Er wollte es dann verkeilen und hämmerte drauf los: Alex stand unten, beobachtete ihn, wiederum mit unübersehbarer Schnullerrotation. Plötzlich nahm er den Schnuller aus dem Mund, meinte fachkundig: „Papa, mußt an größeren Hammer nehmen!“, steckte den Schnuller wieder rein und harrte der Dinge.

Erinnerungen

Erinnerungen bleiben, mal sind sie lustig, mal bittersüß. Oft noch bringen sie mich zum Weinen, ich dachte, dass diese Zeit bereits vorbei sei. Doch in Anbetracht der Ereignisse der letzten Monate wurden Narben wieder aufgerissen, die anscheinend erst sehr oberflächlich zuwuchsen.

Aufflackernde Erinnerungen zählen zum Kostbarsten, das wir besitzen. Es gibt Lebensphasen, in denen dich nur mehr schöne Erinnerungen zum Lächeln bringen. Mir ist bewusst, das sie zu den wichtigsten Geschenken zählen, die ich meiner Mutter machen kann. Jetzt, denn Aufschieben birgt das Risiko des Nicht-mehr-Erlebens. Gelebte Praxis des Hier und Jetzt. IRGENDWAS, das bleibt…

3 Frauen in der Sonne

Begegnungen

Zahlreiche schöne, herzenswarme Begegnungen sind ebenfalls etwas, das bleibt und immer wieder Kraft gibt:

Die langjährige Beziehung zur vorletzten Freundin: beginnend mit dem gemeinsamen Maturajahr im TGM, wohnte sie zu Beginn ein paar Jahre bei uns im Haus und avancierte zum dritten Familienspross. Nach der Trennung der beiden bestand nach wie vor eine gute Freundschaft.

Alex war, bereits von Schmerzen geplagt, als einziger Gast bei ihrer Hochzeit in kleinstem Rahmen. Ich sah ihn selten so gut gelaunt, als er mir spätabends ein Gesteck von der Hochzeitsdeko vorbei brachte. Wir sind nach wie vor in regem Kontakt und haben auch ihren jetzigen Mann sehr ins Herz geschlossen.

Alex Kindergartentante, sie war die erste, die auf seinem Begräbnis erschien. Ich erkannte sie sofort wieder. Eine liebe Bekannte hatte die Begegnung dankenswerter Weise eingefädelt. Seit diesem Zeitpunkt sind wir in regelmäßigem Kontakt und haben einige Gemeinsamkeiten (u.a. die Pflege unserer Mutter).

Oder auch die phantastische Diätologin die Alex betreute, als bei ihm Diabetes diagnostiziert wurde. Aufgrund der Immuntherapie versagte die Bauchspeicheldrüse und er musste zuletzt dauerhaft Insulin spritzen. Sie war eine ganz besondere Schlüsselfigur, denn sie lieh mir das Buch „Mutige Seelen“, welches mich durch besonders dunkle Zeiten begleitete. Noch heute bin ich ihr dafür ausgesprochen dankbar.

Erkenntnisse

In jeder Situation besteht die Möglichkeit des Lernens und der Erkenntnis. Was lerne ich aus dem, was passiert? Wohin führt mich dieses Ereignis? Zu welchem Menschen macht es mich? Was bleibt Positives für mich? Woran erinnere ich mich im Endeffekt?

Als es mir besonders schlecht ging, wurde mir von einer lieben Freundin eine Psychotherapeutin empfohlen. Ein ganz besonderer Mensch, der mir, fast ein Jahr lang, durch schwere Zeiten half. Nach einer Familienaufstellung beschlossen wir, vorläufig mit der Therapie zu pausieren, ich war auf einem guten Weg. Fünf Monate später erfuhr ich von ihrem Tod. Sie hat einen liebevollen Platz in meinem Herzen und lehrte mich Verbundenheit. Dennoch, auch sie fehlt mir.

  • Es gibt immer einen Weg.
  • Wir sind ständig verbunden.
  • In dir steckt mehr, als du für möglich hältst.
  • Ich bin jene Person, auf die ich mich immer verlassen kann.

Das sind wertvolle Erkenntnisse, die ich lernen und erleben durfte. Erkenntnisse, die bleiben.

Lebensträume

Nimm dein Leben in die Hand und lebe JETZT. Lass dich nicht treiben, es wird nicht besser, wenn du Dinge aufschiebst. Eines meiner herausforderndsten Learnings, da ich hin und her gerissen bin, zwischen Pflichtbewusstsein und diesem Grundsatz. Gelegentlich fehlt mir derzeit die Kraft zur Umsetzung, doch das wird sich bald wieder ändern.

Ich finde es absolut großartig, dass meine Tochter Barbara sich nach einer sehr schwierigen Lebensphase gemeinsam mit ihrem Freund einen Lebenstraum erfüllte: Oporto di San Paolo, ein feuriger Murgesen-Hengst aus Italien, hat einen fixen Platz im Herzen und Leben der beiden. Babsi kann wieder strahlen und ist dabei, ihr Leben um 180 Grad zu verändern. Ein Schritt, der definitiv mehr beinhaltet, als nur eine Erinnerung nach möglichst vielen Jahren.

junge Frau mit schwarzem Pferd

Lebenshunger & Neugierde

Doch auch mein Lebenshunger lässt mich, selbst in fortgeschrittenem Alter, immer wieder neugierig neue Dinge ausprobieren:

  • Ausbildungen absolvieren und die wichtigsten Erkenntnisse in mein Leben integrieren (die Ernährungspädagogik auf der Vitalakademie, das Trauerbegleitungsseminar)
  • mein Wissen über Bewährtes vertiefen (die Einsatzgebiete und Wirkungsweise ätherischer Öle, meine Ausbildung zum smoveyCOACH, mein Faible für Smartphone-Fotografie);
  • mich auf mein Blogging-Abenteuer einzulassen, beginnend mit dem Schreibcamp bei Angela Löhr im vorigen Jahr. Die Faszination zog mich in ihren Bann und ich erkannte, wie freudvoll und hilfreich das Schreiben für mich ist. Auch wenn es vielleicht niemand liest, es hilft immens bei der Selbstanalyse
  • sowie auf neue Freunde zu stoßen – auch die Schreibfreundinnen fanden auf diesem Weg zueinander. IRGENDWAS, das bleibt – nun bereits seit über einem Jahr…

Lebensphasen

Alles im Leben hat seine Zeit. Es gibt Lebensphasen, in denen unterschiedliche Dinge von Bedeutung sind. Beziehungen, die kommen und mitunter wieder gehen. jeder von uns kennt das wohl.

Ich befinde mich derzeit in einer Phase der Entschleunigung und des Ballastabwerfens. Seit 1.2. dieses Jahres bin ich in Pension, das hat viel Druck rausgenommen.

Dennoch widerstrebt mir mitunter die Schnelllebigkeit von Social Media und der heutigen Arbeitswelt. Auch die Welt der Reichen und (mitunter gar nicht so) Schönen, die hier vorgegaukelt wird. Brauche ich das wirklich für meinen Seelenfrieden? Hab ich das noch notwendig?

Brücke beim Staudamm vom Hubertussee

Entschleunigung

Mittlerweile überfordert mich die ständige Erreichbarkeit auf diversen Kanälen und Plattformen. Ich lege immer wieder Maulwurfphasen ein, in denen ich mich komplett zurückziehe. Ich brauche meine Kraft und teile sie bewusst ein. Meine Me-Time, meine persönliche Auszeit, mein Auftanken für die Seele. Mein Minddesign.

Und soll ich dir was sagen? Ganz ehrlich? Genau das tut mir gut und ich gehe in dieser Zeit niemandem ab!

Hol mich aus dieser schnellen Zeit
Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit
Gib mir was, irgendwas, das bleibt

Das Aufbereiten meiner Beiträge – ohne Druck und daher unregelmäßig – macht mir nach wie vor Spass. Solange das der Fall ist, wirst du immer wieder mal von mir etwas lesen oder hören. Auch wenn diese Unregelmäßigkeit entgegen aller Empfehlungen in Bezug auf einen wirksamen Social Media Auftritt ist, Follower sind nicht mein Ziel. Ich habe andere Prioritäten.

Schnecke

Die schöne Kombination mit meinem Hobby Fotografieren und Videografie, ist das was für mich zählt. Das ist mein persönlicher Garant für Achtsamkeit im Alltag. 12 von 12 sowie die MoRüBlis geben meinem Jahr mittlerweile Struktur. Ich möchte sie nicht mehr missen, sie sind zur wohltuenden Pflicht auserkoren.

Authentizität

Mittlerweile stehe ich zu mir und zeige mich auch ungeschönt und ungeschminkt vor der Kamera. OMG was für eine Erleichterung! Ist es nicht das, worauf es eigentlich ankommt? Wechseljahre in ihrer ursprünglichsten Form, ein neues „Ich bin genug“ zu leben. Die Einflüsse von außen immer mehr auszublenden und das Innen hervor zu kehren.

Das pure Ich zu zeigen, die verschiedenen Facetten anzunehmen und auch mal zuzugeben, wenn es nicht so prickelnd ist. Rückschläge zu erkennen und darüber zu berichten, vielleicht macht ja gerade das sympathisch. Zeigt gerade das die Fehlbarkeit – es menschelt halt. Und gerade die vermeintlichen Fehler, sind doch das größte Kapital des Lernenden. Nicht IRGENDWAS, sondern genau das bleibt.

MannMitHut

Hier findest du die Gedanken der Schreibfreundinnen zu dem Thema:

Susanne

Christine

Claudia

Marion

Alex

2 Kommentare

  1. Liebe Evelyne, Chapeau! 💕lichen Dank für diesen Einblick in Deine Gedanken, Handlungen und Erinnerungen! Schön, liebevoll, schmerzlich, lehrreich und so viel mehr! Danke, dass wir daran teilhaben dürfen.
    Ja, etwas bleibt… davon auch in meinen Erinnerungen und Gedanken.

    1. Ich habe lange mit mir gerungen, bevor ich diesen sehr persönlichen Artikel veröffentlichen konnte. Vielen Dank für dein warmherziges Feedback, liebe Christine!

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