Wir ÖFFNEN uns einander

Schreibfreundinnen Teil 2

Im Mai ging es bei den Schreibfreundinnen um die Frage „Wann hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt?“ Eine Frage, die sehr in die Tiefe geht. Denn wenn du selbst einmal merkst, dass etwas nicht stimmt und du es vor dir selbst zugibst, dann geht es darum hinzusehen. Sich der Thematik zu stellen. So richtig tief in den Eingeweiden zu wühlen.

Gedanken im Mai 2022

Es ist Mai 2022. Dieses Jahr fordert sehr viel von mir und mitunter bin ich verzweifelt, hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und meinen eigenen Wünschen ans Leben. Viele Gedanken kreisen in meinem Kopf.

Ich funktioniere jeden Tag und gleichzeitig ist mir bewusst, dass es kostbare Lebenszeit ist, die ich dafür aufwende. Zahlreiche Ideen, was ich denn so alles noch tun möchte tauchen auf, verschwinden wieder.

Wo bleibt meine Selbstverwirklichung, die im übrigen wieder darauf abzielt, Wegbegleiterin für andere zu sein? Vielleicht ist das meine Lebensaufgabe, meine Bestimmung? Immer wieder werde ich damit konfrontiert. Ich frage mich: sind es Hinweise des Schicksals, aufzuwachen und das eigene Leben in die Hand zu nehmen oder Zeichen, zu erkennen, dass ich bereits angekommen bin?

Reminder for me: Bucket List. Jetzt habe ich noch die Kraft lustvoll Dinge anzugehen, die ich immer schon tun wollte. Spontan zu verreisen, Neues zu lernen, andere Menschen zu treffen, endlich ich selbst sein. Wenn nicht jetzt wann dann? 

Gleichzeitig bin ich gefangen in meinem Pflichtbewusstsein: wenn ich meine Mutter nicht jetzt pflege, versorge, betreue – wann dann? Ist nicht auch das kostbare Lebenszeit, Noch-Lebenszeit von ihr? Kostbare Lebenszeit jedoch auch für mich, denn noch habe ich die Gelegenheit Gespräche zu führen, Fragen zu stellen, Erkenntnisse zu gewinnen, die es dann nicht mehr zu gewinnen gibt.

Unser Umbau ist in vollem Gange und es zeigt sich, dass massive Probleme auf uns zu kommen. Die Wände im Keller sind feucht und die Zeit drängt. Keine gute Mischung. Ich hab von alledem nicht viel Ahnung, ich merke nur, dass ich mit vielen Dingen überfordert bin. Naja irgendwie krieg ich das schon hin… 

Doch sind wir da nicht schon wieder beim Funktionieren? Beim “Das schaffe ich auch noch!”, „Irgendwie geht das schon.“ Immer wieder über Grenzen gehen, obwohl meine Energiereserven bereits geleert sind. Meine Batterie benötigte bereits mehrmals Starthilfe, sie lud sich in den letzten drei Jahren nie wieder voll auf.

Es kommt grade viel zusammen. Wieder einmal. Wenn ich wegen „Nichts“ emotional werde, dann ist die Kacke am Dampfen. Dann ist es Zeit hinzuschauen und zu agieren. Nicht nur zu reagieren.

Doch was ist die Alternative? Alles hinschmeissen? Das geht nicht, meine Mutter soll sobald wie möglich einziehen können. Ihr Gesundheitszustand ist nicht der Beste, immer wieder müssen wir zwischendurch ins Krankenhaus.

Déjà-vu

So war es auch im Februar 2021.

Plötzlich steckte ich in einer Endlosschleife und erlebte immer wieder, wie mein Sohn mir im Februar 2020 seine unheilvolle Krebsdiagnose im Beisein eines Psychologen mitteilte. Alex starb im August 2020. Genau ein Jahr später holte mich die Vergangenheit plötzlich ein und wollte angesehen werden. Verdrängen funktionierte nicht mehr.

Immer und immer wieder erlebte ich diese Szene. Wie in einem schlechten Film. Du willst weglaufen, doch du kommst nicht von der Stelle. Angst schnürt dir die Kehle zu. Unsinnige Fragen stürmen durch deine Gehirnwindungen. Du schaltest ab und hörst nur mehr das, was du hören willst. Ich verdrängte zum damaligen Zeitpunkt die Realität total.

Irgendwann erkannte ich, dass meine Vogel-Strauss-Politik keinen Sinn macht. Dass ich mich irgendwann den Tatsachen stellen musste. Dass ich es alleine nicht schaffe. Dass irgendwas nicht stimmt. Dass ich es endlich akzeptieren und annehmen muss.

Zu diesem Zeitpunkt suchte ich mir Hilfe bei Patricia, einer phantastischen Frau. Ich lernte innezuhalten. Mir Zeit für mich zu nehmen. In mich hinein zu spüren. Mich ernst und liebevoll anzunehmen. Aufzuhören zu hadern. Verbundenheit zu spüren.

Die anfängliche Fassungslosigkeit wich nicht unbedingt einer Leichtigkeit, doch sie machte Platz für ein neues Verständnis der Zusammenhänge zwischen Leben und Sterben. Patricia nahm mir ein bisschen etwas von der Schwere meiner Trauer, brachte eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit verstorbenen Seelen.

Ermutigte mich, meine Emotionen zuzulassen, vergangene Geschehnisse umzuerleben. Machte mir liebevoll die immer währende Möglichkeit des Dialogs bewusst, da meine Lichtgeschwister ständig um mich sind. 

Sie fügte als äußerst einfühlsame Psychotherapeutin viele Puzzlesteine neu zusammen, erklärte mir Zusammenhänge, löste im Rahmen einer Familienaufstellung beklemmende und einengende Verbindungen. Mit ihr gemeinsam ließ ich meinen Sohn gehen.

Vor ein paar Tagen erfuhr ich von ihrem plötzlichen Tod. Jetzt ging sie ins Licht, ebenfalls viel zu früh. Für wen zu früh? Für mich war sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Der Tod ist allgegenwärtig, er gehört zum Leben. Genauso wie es den Tag nicht ohne die Nacht gibt. Das ist Polarität.

Akzeptanz

Wieder geht es um Annehmen. So tragisch der Verlust ist – Patricia fehlt mir sehr – doch auch hier macht Hadern keinen Sinn. Ich denke oft an ihre Worte und ich fühle mich nach wie vor verbunden. Das lernte ich von ihr.

Die Trauer akzeptieren, sich selbst die Zeit geben, sie anzunehmen und zu verarbeiten. Es gibt in dieser Phase kein richtig und kein falsch. Liebevoll mit sich selbst umgehen und Pausen einplanen. Trauerarbeit kann auch physisch anstrengend sein, von der Psyche wollen wir gar nicht reden.

Lass dir gesagt sein: wann immer es möglich ist, tanke deine Batterien auf. Du weißt nie, wann die nächste Herausforderung kommt, darum gehe sorgsam und liebevoll mit dir um. Ich tat das viele Jahre nicht.

Die Tatsache der eigenen Endlichkeit war für mich u.a. mit Angst behaftet, etwas versäumt, noch gar nicht richtig gelebt zu haben. Das ist auch der Grund meiner derzeitigen intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema. Ich habe vor, im Herbst die Ausbildung zur Trauerbegleiterin zu machen.

Schicht für Schicht zum tiefsten Schmerz vorzudringen, vorsichtig hinzusehen und anzunehmen. Für die Zukunft neue Wege zu finden, auch im Umgang mit meiner Mutter. Hier ist derzeit fast täglich Trauerbegleitung gefragt.

Ich darf lernen mich abzugrenzen, gerade als Tochter ist das jedoch oftmals nicht einfach. Zu viele Emotionen schwingen hier mit, das Bedürfnis helfen zu wollen und nicht zu können. Akzeptanz auf vielen Ebenen.

Vertraue dem Leben

Ich lernte in den letzten Jahren zu vertrauen. Zu vertrauen, dass es immer einen Weg gibt. Es steckt mehr Kraft in dir, als du dir vorstellen kannst. Eines meiner Ziele ist, jederzeit aus dieser Kraft schöpfen zu können, unabhängig was im Außen passiert. Ein großes Ziel, ich weiß.

Ich möchte auch um einen Kuraufenthalt ansuchen, damit ich endlich die Zeit habe, meine Batterien wieder aufzuladen. Gewappnet zu sein, für alles was kommt.

Derzeit kann ich mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Doch der dringende Wunsch ist vorhanden. Ich habe ihn ans Universum geschickt und bin voll im Vertrauen. Es wird so kommen, wie es für alle Beteiligten das Beste ist.


Gedanken im April 2023

Wenn ich heute diese Zeilen lese, wird mir warm ums Herz. Wann immer du ganz unten bist, lass dir gesagt sein: das Leben verläuft in Wellen, Irgendwann geht es auch wieder bergauf. Mein Motto hat sich auch jetzt bewahrheitet: Vertraue dem Leben, finde das Geschenk.

Damals wusste ich noch nicht, dass noch vier weitere Krankenhausaufenthalte auf meine Mutter respektive uns zukommen. Doch Mama ist eine Kämpferin. Wenn ich mir ansehe, wie sie heute beinander ist, welche Entscheidungen sie traf, wie gut sie sich einlebte und welche Lebensfreude sie ausstrahlt, bin ich sehr stolz auf sie.

Evelyne reloaded

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich tiefenentspannt im Moorheilbad Harbach. Mittlerweile bin ich die dritte Woche auf Kur. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, in Kürze geht es wieder nach Hause. Daheim lief alles wie am Schnürchen.

Wir lassen uns nicht unterkriegen (das haben Mama und ich übrigens gemeinsam), Resilienz sagt man heute dazu. Ein Ausdruck, der eigentlich aus der Metallverarbeitung kommt. Biegst du ein Metall und es schwingt in die urspüngliche Form zurück, hat es eine hohe Resilienz. Verbleibt es in der gebogenen Form, eben nicht.

Trauerarbeit

Ich selbst absolvierte das geplante Trauerbegleitungs-Seminar, das ich vorige Woche erfolgreich mit der Abschlussprüfung beendete. Für mich war es ein weiterer Schritt, das Erlebte zu verarbeiten und die Gegenwart zu bewältigen.

Ich bin derzeit dabei die Abschlussarbeit zu schreiben, um die Zertifizierung zu bekommen. Einfach weil ich es liebe, Vorhaben abzuschließen. Ich bin nun mal ein Bullet-Point-Junkie.

Lichtgestalten

Und da war sie wieder, diese Fügung. Ich lernte eine ganz wunderbare Frau kennen, nämlich die Dozentin, die diese Ausbildung leitete, Savina Tilmann. Auch sie gehört zu jenen, oben erwähnten Lichtgestalten in meinem Leben. Da gibt es eine ganz eigene Verbundenheit, die mich fasziniert und die auf Gegenseitigkeit beruht. Echt spannend, noch kann ich es nicht ganz einordnen.

Erkenntnisse

Im November entschloss ich mich dazu, ein Fernstudium zur Ernährungstrainerin zu belegen. Seither eröffnen sich für mich neue Welten. Mir war nicht bewusst, wie komplex diese Thematik ist und wie sehr ich mich darin verlieren würde. Mittlerweile hab ich mein Thema für die Diplomarbeit eingereicht und die erste Teilprüfung abgelegt.

Alex ist in Gedanken so nahe bei mir. Er schaut mir täglich kopfschüttelnd über die Schulter und grinst, weil er nie so pauken musste, wie ich es tue. Er las sich viele Dinge nur einmal durch und hatte sie intus. Er war wie ein Schwamm und hatte ein fotografisches Gedächtnis. Er war hochintelligent, ich bewunderte das immer sehr. Ja ich gebe zu, Neid schwingt mit, da konnte ich nie auch nur ansatzweise mithalten.

Doch auch wenn ich wirklich viel lernen muss, ich erkenne plötzlich zahlreiche Zusammenhänge! Ich ziehe Erkundigungen ein, recherchiere, lege mehr Wert auf Nachhaltigkeit und Qualität als je zuvor. Ich lese Zutatenlisten, achte akribisch auf die von mir verwendeten Öle, kaufe regional und saisonal so gut es möglich ist.

Hinschauen

Natürlich bekomme ich auch einen anderen Bezug zu diversen Krankheitsbildern. Was ich noch vor kurzem verdrängte, ziehe ich mir jetzt voll rein: Diabetes, Krebs, Adipositas, metabolisches Syndrom, um nur einige zu nennen.

Es kostet mich zum Teil viel Kraft, doch ich spüre die Zeit ist reif dafür. Beschäftigst du dich mit den positiven Aspekten, kannst du die Kehrseite der Medaille nicht unbeachtet lassen, das ist universelle Gesetz der Polarität.


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2 Kommentare

  1. Das Leben verläuft in Wellen … Danke für diesen einprägsamen und so wahren Satz!
    Und Du darfst Dir selbst auf die Schultern klopfen – Du nimmst alle Wellen. Die hohen wie auch die tiefen. Ja das kostet Kraft, viel Kraft. Aber so, wie Du die Wellen nimmst, sammelst Du auch Kraft. Ich bewundere Deine Kraft, Deinen Elan, Dich den Wellen zu stellen und so ganz nebenbei noch andere Wellen zu erkunden 😊

    1. Ich glaube mittlerweile, dass die Kunst darin liegt, eben nicht dagegen anzukämpfen, sondern sich von den Wellen des Lebens tragen zu lassen. Offen dafür zu sein, wo sie dich hinbringen. Wer weiß, vielleicht ist es dort sogar schön? Vielen Dank, liebe Christine!

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